Der Baustoff Lehm auf dem Weg in das moderne Bauwesen
Sina Richter
Die Sonne spiegelt sich auf der Oberfläche des Sees. Vor mir erhebt sich eine Faust aus dem Wasser. Es fallen Tropfen in einem gelblichen Braun von ihr herab. Meine Freundin Laura taucht auf und schwimmt zu mir. Sie öffnet ihre Hand und zeigt mir die glitschige Masse, die sie vom Grund des Sees heraufgeholt hat. Gemeinsam laufen wir zum Ufer, an dem wir schon einen kleinen Vorrat des Materials gesammelt haben. Jetzt reicht es aus, um unser Vorhaben zu beginnen: Wir möchten eine Burg bauen. Das Material lässt sich gut bearbeiten. Immer wieder packen wir neue Klumpen aufeinander und sind beeindruckt, wie gut sie aneinanderkleben. In der Sommersonne trocknet unser Baumaterial schnell und wird fest. Damit es formbar bleibt, geben wir immer wieder etwas Seewasser hinzu. Meine nassen Hände gleiten über die Burgmauer, um sie zu begradigen und um kleine, beim Trocknen entstandene Risse auf der Oberfläche zu beseitigen. In meiner Kindheit am Badesee war mir nicht bewusst, was es mit dem erdigen Material in meinen Händen auf sich hat und dass wir für die Entstehung unseres Kunstwerks einen der ältesten Baustoffe der Menschheitsgeschichte benutzten: Lehm.
Lehm entsteht, wenn Gesteine der Erdkruste verwittern. Durch diesen Prozess bilden sich sehr feine und bindekräftige Tonminerale. Kommen diese Minerale in einem bestimmten Verhältnis mit den anderen entstandenen Korngrößen Sand und Schluff vor, spricht man von Lehm. Durch Wind, Gletschertransport und Wasser wird der Lehm an unterschiedliche Orte bewegt. Je nachdem wie dieser Transport abläuft, spricht man von Lößlehm, Geschiebelehm oder Schwemm- und Auelehm [1].
Die Ursprünge des Lehmbaus liegen mehr als zehntausend Jahre zurück [2]. Das ist nicht verwunderlich, denn es handelt sich um eine Form von Erde. Er lässt sich, wie am Grunde des Badesees, fast überall auf der Welt einige Meter tief im Boden finden, ist also ein leicht zugänglicher, lokaler Baustoff [3]. Oft kann man schon beim Aushub der Baugrube auf Lehm stoßen, der auch direkt als Baulehm genutzt werden könnte [4].

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Hersteller von Lehmprodukten gewinnen ihr Rohmaterial zum Teil aus dem Aushub von Großbaustellen, der sonst kostenintensiv entsorgt werden müsste [5]. Andere Anbietende nutzen den beim Sand- und Kiesabbau übriggebliebenen Lehm, der andernfalls ein Abfallprodukt darstellen würde [6]. Im Idealfall befinden sich die Orte der Lehmgewinnung im Umkreis von 100 km der jeweiligen Produktionswerke oder Baustellen, auf denen er zum Einsatz kommt. So kann der CO2-Ausstoß niedrig gehalten werden [7]. Der Energiebedarf, der für Produktion und Transport von Lehm aufgewendet werden muss, um auf der Baustelle verarbeitet werden zu können, ist im Vergleich zu anderen Baumaterialien bemerkenswert gering. Er beträgt lediglich 10 % des Energieaufwands, der für Produkte aus heimischem Holz aufgewendet werden muss [8] und nur etwa 15 % der Energie, die für Zement notwendig wäre [9]. Lehm muss nur trocknen, um fest zu werden, denn der enthaltene Ton bindet das Material auf natürliche Weise. Es sind keine thermischen oder chemischen Verfahren zur Weiterverarbeitung nötig, wodurch bei der Produktion von Lehmbaustoffen keine Wasserreserven verunreinigt werden [10]. Auch für den Abbau des Materials wird kein Wasser benötigt. Erst bei der Aufbereitung, der Homogenisierung, dem in Form bringen oder Anmischen der Rohmasse kommt es zum Einsatz. Dafür ist Wasser im Werk oder auf der Baustelle nötig [3]. Lehm ist also wasserlöslich – sorgt dieser Umstand dafür, dass im eher regnerischen Deutschland der Einsatz von Lehm als Baustoff nicht mehr so weit verbreitet ist?

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Lehm wird oft als Baumaterial wahrgenommen, das nicht langlebig, sondern empfindlich und daher veraltet und minderwertig ist [10]. Das jahrhundertealte Wissen um das Bauen mit Lehm ist nach und nach verloren gegangen. Durch die Industrialisierung und die damit aufkommenden Baustoffe wurde Lehm als Baumaterial verdrängt [11]. Im Jahr 2022 entfielen 37 % des weltweiten CO2-Ausstoßes auf den Bausektor. Im modernen Bauwesen kommen besonders häufig die Materialien Beton, Stahl und Aluminium zum Einsatz, die für das Verschwinden des Lehmbaus mitverantwortlich sind [12]. Die ökologischen Vorteile von Lehm sorgen seit den 1970 Jahren dafür, dass sich mehr und mehr Organisationen, Initiativen und Akteur*innen für den Baustoff einsetzen. Um den Lehmbau wieder reizvoller zu machen und so seine Akzeptanz zu steigern, soll Wissen zum Thema verbreitet werden. Durch Lehm kann eine nachhaltigere Zukunft für das Bauen ermöglicht werden.
In Frankreich sitzt das internationale Zentrum für Erdbau CRAterre. Der Verein leitet den UNESCO-Lehrstuhl für Lehmbauarchitektur, Baukulturen und Nachhaltigkeit an der Écoled’architecture de Grenoble [14]. In Deutschland ist der Dachverband Lehmbau e.V. aktiv, der die Lehmbauregeln herausgibt. Es handelt sich dabei um Vorschriften zum Bauen mit Lehm, die als anerkannte Regeln der Technik eingeführt wurden. Der Verband setzt sich außerdem für die von der Handelskammer anerkannte Weiterbildung Fachkraft Lehmbau ein [14]. Ausbildungen dazu und Kurse, auch mit europaweit anerkannten Qualifikationen, bietet die Europäische Bildungsstätte für Lehmbau in Mecklenburg-Vorpommern an [15]. Aber in Zeiten des Klimawandels mit mehr Starkregen und Überschwemmungen sowie zunehmendem Hochwasser, soll ein wasserlöslicher Baustoff eine Alternative sein?
An einem wolkenverhangenen Junitag sitze ich im Zug von Hamburg in Richtung Hitzacker. Hier befindet sich der Lehm-Laden, ein Baustoffhandel, der sich auf Produkte aus Lehm und einige weitere nachhaltige Baumaterialien spezialisiert hat. Lehm unmittelbar von der Baustelle kann zwar auch heute noch direkt zum Bauen genutzt werden, die Zusammensetzung unterscheidet sich jedoch je nach Fundort. Lehme können mager bis sehr fett sein. Fetter Lehm enthält mehr Tonpartikel, die Bindekraft ist entsprechend höher [3]. Daher müssen die Qualität und die jeweiligen Einsatzmöglichkeiten individuell untersucht werden [2]. Industriell gefertigte Lehmbaustoffe können jedoch eine einheitliche Qualität gewährleisten. Es gibt zahlreiche Produkte auf dem Markt, die unterschiedlich zum Einsatz kommen können.
Auf meiner Fahrt zum Firmengelände durch das Wendland und den Landkreis Dannenberg, vorbei an weitläufigen Wiesen, Wäldern und vereinzelten Häusern und Höfen, denke ich darüber nach, wie gut ein Handel für ökologische Baustoffe hierher passt. Im Zuge der Anti-Atomkraft-Bewegung Ende der 1970er Jahre, zogen viele die Umweltbewegung unterstützende Menschen in die spärlich besiedelte Gegend [16]. Alte Bauernhöfe, viele davon Fachwerkbauten, wurden zu ihrem neuen Zuhause. Gleichzeitig rückten, mit der Intensivierung der ökologischen Debatte, nachhaltige Baustoffe stärker ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Da für die denkmalschutzgerechte Sanierung von Fachwerk Lehm zum Einsatz kommt, gewann der Baustoff wieder an Bedeutung [7].
Neben dem Empfangstresen des Lehm-Ladens erspähe ich eine Wand aus Stampflehm. Sie ist knapp 2 m hoch, 1 m breit und circa 40 cm dick. Sie wirkt massiv und archaisch. Ich befühle das raue Material und bin erstaunt von seiner Kühle und Robustheit. Die Stampflehmwand ist tragfähig, kann also Lasten aufnehmen. Ich entdecke den Betonsockel am unteren Abschluss und erfahre, dass es sich bei dem Wandstück um ein Stampflehmbau-Fertigelement handelt.

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Um die Wand im Sockelbereich vor Wasser zu schützen, wird hier direkt eine wasserfeste Betonschicht integriert. Die Betonfertigteile sind aktuell das Vorzeigeobjekt des Lehm-Ladens [7]. Stampflehm begeistert Kund*innen und Architekt*innen gleichermaßen durch seine ursprüngliche und sinnliche Ausstrahlung. Bauten aus Stampflehm, wie das neue Kräuterzentrum der Firma Ricola von Herzog & De Meuron oder der AlnaturaCampus von haascookzemmrich STUDIO2050, präsentieren das Material auf eindrucksvolle Weise und haben dadurch das Interesse an dieser Bauweise und an Lehm generell neu belebt [17].An beiden Projekten beteiligt war der Österreicher Martin Rauch. Der gelernte Keramiker und Gründer der Firma Lehm Ton Erde beschäftigt sich seit den 1980er Jahren mit Lehm. Seit den 1990er Jahren plant und baut er Lehmbauten, sowohl national als auch international, und steht namhaften Architekt*innen bei ihren Bauvorhaben mit seinem Fachwissen zur Seite [18].
Stampflehm wird seit dem 9. Jahrhundert vor Christus als Baumethode genutzt. Die grundlegende Methode ist dabei seitdem die gleiche geblieben. In einer Schalung werden dünne Schichten von circa 10 cm eines Gemischs aus Stroh, Lehm und Kies gestampft. Das Verdichten erfolgt per Hand und jede Schicht muss trocknen, bevor die nächste eingefüllt werden kann. Dies nimmt auf der Baustelle entsprechend viel Zeit und Arbeitskraft in Anspruch, was zu einem hohen finanziellen Aufwand führt [19]. Um das Bauen mit Stampflehm an die finanziellen und zeitlichen Zwänge der modernen Bauwelt anzupassen, wurden in den 1980er Jahren Stampflehm-Fertigelemente entwickelt [2]. Ein Konzept, das Martin Rauch perfektioniert hat und das für die zuvor genannten Bauvorhaben zum Einsatz kam. Die Elemente können im Werk vorproduziert werden und, wie Betonfertigteile auch, einfach auf die Baustelle geliefert werden. Vor Ort werden sie mit dem Kran an die entsprechenden Positionen gesetzt. Stöße und Fugen werden anschließend mit Lehm gefüllt und geglättet, um eine einheitliche Fläche zu bilden [18].
Das Fertigteilelement aus dem Lehm-Laden ist, mit einem Preis von circa 6.500 €, jedoch immer noch weitaus teurer als ein konventionelles Fertigteil aus Beton [20]. Stampflehm ist daher derzeit nur großen Prestigeprojekten vorbehalten [7]. Die Kosten für einen Lehmbau fallen allgemein höher aus als bei einem Bau, der auf die üblichen Industriebaustoffe zurückgreift [21]. Durch eine größere Produktionsmenge können niedrigere Preise erzielt werden, die bei Lehmbaustoffen, aufgrund der derzeit noch geringen Nachfrage, momentan jedoch nicht realisierbar sind. Der Einsatz von Lehm kann an anderen Stellen die Baukosten aber auch positiv beeinflussen. Weil Lehm diffusionsoffen ist, können Kosten für die Belüftung gesenkt werden. Er kann Feuchtigkeit aufnehmen und später wieder abgeben, was sich positiv auf das Raumklima auswirkt [10]. Schon bei einer 3 cm dicken Schicht Lehmputz, können die Ausgaben für die Kühlung um 40 % gesenkt werden, wie für das Landesmuseum Bregenz berechnet wurde [22].
Häufiger als die Stampflehm-Fertigteile werden im Lehm-Laden Lehmbausteine verkauft. Sie werden in verschiedenen Härtegraden angeboten: Eine tragende Variante, eine nichttragende und eine weiche Ausführung, der Strohfasern beigesetzt sind. Letzterer wird als Leichtlehmstein bezeichnet. Sie alle sind aus gepresstem und anschließend getrocknetem Lehm hergestellt. Je nach Festigkeitsklasse werden unterschiedliche Methoden zum Pressen angewendet. Die Oberfläche des nichttragenden Steins fühlt sich weich, fast cremig an, der Tragende hingegen rau und beständig. Der Stein aus Leichtlehm ist kaum schwerer als mein Notizbuch, das ich in der anderen Hand halte. Während ich alle Steine befühle, bröseln feine Körnchen ab. Beim Leichtlehmstein ist das Stroh an der Oberfläche sichtbar.
Die drei Arten werden in die unterschiedlichen Anwendungsklassen für Lehmsteine eingeordnet. In den Lehmbauregeln werden die tragenden und nichttragenden Steine der Klasse II zugewiesen. Sie sind für verkleidetes, witterungsgeschütztes Außenmauerwerk oder Innenmauerwerk geeignet. Der Leichtlehmstein fällt in die Klasse I a und ist für verputztes, der Witterung ausgesetztes Außenmauerwerk zu verwenden [23]. Er wird zum Beispiel für das Ausfachen von Fachwerk genutzt und hält, mit einem Kalkputz beschichtet, der Witterung stand [7]. Wasser stellt in diesem Fall also kein Problem mehr dar. Viele Fachwerkhäuser, bei denen diese Bauweise zum Einsatz kam, überdauern schon Jahrhunderte. Häufig wurde, trotz seiner Wasserlöslichkeit, auch Lehmputz zum Verputzen der Außenwand genutzt. Teilweise wurden Kuh- oder Pferdemist beigemischt, um ihn witterungsbeständig zu machen [24] oder der Putz wurde einfach jährlich von den Bewohnenden ausgebessert und erneuert [4].
Im heutigen Baugewerbe ist beides schwer vorstellbar, deshalb werden die Lehmputze, die es im Lehm-Laden zu kaufen gibt, für den Innenraum empfohlen. Sie werden in Papiersäcken verkauft, können mit Wasser gemischt und nach kurzer Ziehzeit direkt aufgetragen werden [25]. Das Produkt ist leicht für Handwerker*innen zugänglich, weil es angewendet werden kann, wie jeder andere Putz. So können auch diejenigen erreicht werden, die bislang wenig Erfahrung mit dem Material Lehm haben.

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In Erbstorf, einem Vorort von Lüneburg, saniert Charlotte Overmayer zusammen mit ihrem Partner ein Backsteinhaus von 1937. Dafür benutzen sie nachhaltige Materialien. Die Innenwände des Hauses sollen komplett mit Lehm verputzt werden [4]. Im Erdgeschoss ist der Lehmputz schon fertig. Die Oberfläche ist geschliffen und in ihrem Endzustand. Bereits beim Schlendern durch die Räume im Erdgeschoss nehme ich das angenehme Raumklima wahr und habe das Gefühl ganz anders und tiefer zu atmen. Hier hat Charlottes Partner die Wände größtenteils per Hand und ohne den Einsatz von Maschinen verputzt [25]. Für das Obergeschoss haben die beiden sich die Lehmbauerin Anna Maas zur Hilfe geholt. Sie besitzt zwei Putzmaschinen, die die Arbeit deutlich erleichtern. Der baufeuchte Lehmputz aus einem Big Bag wird vor dem Haus in den Putzmaschinen mit Wasser vermengt und über Schläuche ins erste Stockwerk des Gebäudes gepumpt, wo Anna sie direkt auf die Wände aufspritzt.

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Anschließend zieht sie mit einer H-Kartätsche, einer circa 1,5 m langen Aluschiene in Form des Buchstabens H, die Oberfläche ab, um sie zu glätten. Auf die noch nasse Schicht Lehmputz bringen wir gemeinsam ein Armierungsgewebe auf, das den Putz, zusätzlich zum enthaltenen Stroh, vor Rissen schützen soll. Für den nächsten Schritt wird, mithilfe eines Rührmixers, Lehmputz und Wasser in einem Eimer gemischt. Das Wasser stammt aus den Bautrocknern, mit denen der Putz über Nacht getrocknet wurde. Anna achtet besonders darauf, dass nur das Nötigste an Ressourcen verbraucht wird. Hätte es die vorherigen Tage weniger geregnet, hätte auch die Energie für den Bautrockner eingespart werden können. Mit unseren Trapezkellen nehmen wir den Lehmputz aus dem Eimer, bringen ihn auf unsere Glättkellen und damit auf die Wand. Wir bedecken das Gewebe mit Lehmputz und begradigen ihn anschließend. Mit der Zeit wird die Luft im Raum immer feuchter, der Lehm am Boden und in den Gefäßen, die wir zum Mischen verwenden, trocknet immer mehr an. Was beim Verputzen auf den Boden getropft ist, kann wiederverwendet werden. Ich kratze die Reste mit der Kelle vom Boden auf und vermische sie mit etwas Wasser, um die neu entstandene Masse anschließend wieder auf die Wand aufzubringen. Am Ende meines Arbeitstages mit Anna reinigen wir gemeinsam die Putzmaschinen. Auch hier fangen wir den Großteil des Wassers, das wir zum Ausspritzen verwenden, auf. Es kann morgen wieder zum Anmischen des Lehmputzes verwendet werden. Während der Bauzeit des Erdgeschosses benutzt Charlotte das Wasser auch teilweise zum Blumengießen und füllt Unebenheiten im Garten mit Resten des Lehmputzes auf [25].
Anna führt nicht nur Lehmputzarbeiten aus, sondern bietet auch Beratungen an, wenn ihre Kund*innen das Verputzen mit Lehm selbst vornehmen möchten. Sie berichtet, sie habe in ihrem Arbeitsalltag viel mit „Häuslebauer*innen“ zu tun, die selbst an ihren Einfamilienhäusern arbeiten und ein Bewusstsein für Nachhaltigkeit haben [4]. Meist sind einzelne Handwerker*innen oder kleine Betriebe auf Lehm spezialisiert. Sie können größere Bauvorhaben aufgrund ihrer Kapazitäten nicht bearbeiten. Betriebe, die die entsprechende Größe hätten, schrecken, unter anderem aus wirtschaftlichen und bautechnischen Gründen, vor dem Material Lehm zurück.
Die Lehmbauregeln existieren zwar seit 1999, lange Zeit war dennoch für die Genehmigung eines Gebäudes aus Lehm eine behördliche Zustimmung im Einzelfall nötig. Baunormen, die auf Eigenschaften von Materialien wie Beton oder Zement ausgelegt sind, verhinderten den Einsatz von Lehm [12]. Seit 2013 existieren auch DIN-Normen für Lehmbaustoffe. Sie umfassen Lehmsteine, Lehmmauermörtel, Lehmputze, Lehmputzmörtel und Lehmplatten. Die aktuell gültige Version ist von 2018 [21]. Im Juni 2023 wurden die Normen um die DIN18940 für tragendes Lehmsteinmauerwerk erweitert. Seitdem können Lehmsteine für Bauwerke bis einschließlich Gebäudeklasse 4, also Gebäude bis zu einer Höhe von 13 m, zugelassen werden [26]. Die Norm schafft die Grundlage dafür, dass mehr mit Lehm gebaut wird und auch größere Gebäude entstehen können. Sie bringt die Sicherheit, die nötig ist, um Banken und Investierende, die das Geld für Bauprojekte zur Verfügung stellen [27], den öffentlichen Bausektor [16], aber auch mehr Handwerker*innen und Architekt*innen vom Bauen mit Lehm zu überzeugen [21].
Der Projektentwickler Rolf Kellner beschäftigt sich seit den 1980er Jahren mit Lehmbau. Er ist seit der Gründung im Dachverband Lehmbau e.V. aktiv, hat früher mit Martin Rauch zusammengearbeitet und später mit seinem eigenen Büro überNormalNull zahlreiche Erfahrungen mit Lehmbau gesammelt. In seiner Berufslaufbahn sind ihm auch durch Wasser verursachte Bauschäden begegnet [26]. Dennoch ist Rolf von den Vorzügen des Bauens mit Lehm überzeugt. Neben den bereits erwähnten vorteilhaften Eigenschaften ist Lehm auch feuerfest und kann Wärme aufnehmen, speichern und sie später wieder abgeben. Lehmwände kühlen im Sommer und binden Gerüche und Schadstoffe aus der Raumluft [10]. Die Wasserlöslichkeit von Lehm stellt für Rolf kein Problem dar. Er hält sogar, trotz Nähe zur Elbe, ein 5-geschössiges Wohnhaus aus Stampflehm in der HafenCity für vorstellbar [27]. Ein Haus aus Stampflehm mitten im Sturmflutgebiet bauen?
Es gibt Wege dem Wasser entgegenzuwirken, meint Rolf. „Gute Stiefel und ein guter Hut“ schützen einen Lehmbau vor Feuchtigkeit [2]. Das ist ein wichtiger Leitsatz für das Bauen mit Lehm. Das Gebäude muss einen Dachüberstand besitzen, der im Idealfall groß genug ist, um die Fassade vor Regen zu schützen. Auch der Sockel muss wasserbeständig sein. Letzteres ist auch für tragende Wände im Innenraum vorgeschrieben. Die 5 cm oberhalb des Fertigfußbodens müssen aus einem wasserbeständigen Material hergestellt werden [26]. Im Falle der HafenCity wäre ein Erdgeschoss aus Stahlbeton vorstellbar. Stampflehm käme erst in den oberen Geschossen zum Einsatz [27]. In einem Zeitraum von 100 Jahren werden etwa 2 bis 4 cm einer Stampflehmfassade durch Niederschlag ausgespült [28]. Die feinen Partikel an der Oberfläche werden abgetragen, bis nur noch die groben Körnungen übrigbleiben [18].

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Diese Erosion kann schon bei der Planung einkalkuliert werden. Eine weitere Möglichkeit, um dem Auswaschen Einhalt zu gebieten, ist das Einbringen von dünnen Schichten aus Steinen, Ziegeln und Keramik oder von Fugen aus Kalkmörtel. Im Abstand von mehreren gestampften Schichten der Lehmwand, werden diese Erosionsbremsen eingelegt, um das Wasser daran zu hindern, an der Wand herunterzufließen [18].
Wasser stellt für den modernen Lehmbau kein Problem dar. Entgegen mancher Vorurteilekann Lehm sehr beständig sein. Um den Lehm weg von einem Image als experimentelles Material für den Eigenbau des Einfamilienhauses, hin zum Material für groß angelegten Geschosswohnungsbau zu bringen, braucht es gebaute Beispiele. Ein Leuchtturmprojekt hierfür entsteht in Ivry-sur-Seine, einem Vorort von Paris. Das Bauland liegt in unmittelbarer Nähe zur Seine und damit im Hochwassergebiet. Dennoch plant das Architekturbüro Joly & Loiret hier 300 Wohneinheiten in Lehmbauweise. Im Erdgeschoss wird, wie bei Rolfs Vision für die HafenCity, Stahlbeton zum Einsatz kommen, um die Wasserfestigkeit zu gewährleisten. In den oberen Stockwerken sollen die Außen- und Innenwände aus getrockneten Lehmziegeln gemauert werden. Beim Bau der neuen Pariser Metrolinie fällt eine enorme Menge Erdaushub an, die zur Herstellung der Lehmziegel verwendet werden soll. Die EU unterstützt das Projekt finanziell [29].
Durch solche Förderprogramme kann die Politik dafür sorgen, dass Lehm im modernen Bauwesen Fuß fasst [30]. Das wäre ein wichtiger Schritt, denn für andere Baustoffe wie Beton, Zement oder Stahl gibt es seit Jahrzehnten international einflussreiche, finanzkräftige Lobbygruppen, die sich für den Einsatz der jeweiligen Baustoffe engagieren. Aus diesem Grund bildete sich 2022 in Berlin der Industrieverband Lehmbaustoffe. Er vertritt seitdem die wichtigsten deutschen Produzierenden von Lehmbauprodukten gegenüber der Politik und macht darauf aufmerksam, dass moderne Lehmbaustoffe wie konventionelle Baustoffe verwendet werden können [31]. Aber im Vergleich zu den konventionellen Baustoffen bietet Lehm einen entscheidenden Vorteil: Seine größte Schwachstelle, die Wasserlöslichkeit, die lange Zeit Vorbehalte gegenüber dem Material geweckt hat, ist gleichzeitig auch das beste Argument für das Bauen mit Lehm. Lehm ist recyclebar und kreislauffähig. Durch die Möglichkeit in Wasser gelöst zu werden, kann Lehm, wie ich auch bei meinem Baustellenbesuch mit Anna erfahren durfte, immer wieder plastisch gemacht und so neu verwendet werden, ohne an Qualität einzubüßen. Baustoffe und ganze Gebäude können zu neuen Lehmbauprodukten oder letztendlich wieder zu Erde werden [1].
Laura und ich laufen über den Parkplatz auf die Liegewiese am See. Schon von weitem bemerken wir, dass die Lehmburg, die wir vor ein paar Tagen gebaut haben, verschwunden ist. Gestern hat es geregnet. Nur ein paar Überreste und ein gelbliches, glänzendes Rinnsal zum Wasser hin, lassen noch etwas von ihr erahnen.
[Lizenz: CC – BY – SA]
Quellen:
[1] Röhlein, U. und Ziegert, L. 2020. Lehmbau-Praxis: Planung und Ausführung. 3. Auflage. DIN Deutsches Institut für Normierung e.V.: Berlin.
[2] Gauzin-Müller, D. 2018. Lehmarchitektur heute. vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich: Zürich.
[3] Schroeder. H. 2019. Lehmbau: Mit Lehm ökologisch planen und bauen. 3. Auflage. Springer Vieweg: Wiesbaden.
[4] Maas, A. Interview der Autorin. 6.06.2024.
[5] Conluto. 2024. Schon bei der Gewinnung an die Umwelt denken. https://www.conluto.de/mit-lehm-bauen/.
[6] Claytect. 2020. Lehm: Der nachhaltige Baustoff der uns zu Füßen liegt. https://claytec.de/lehm-der-nachhaltige-rohstoff-der-uns-zu-fuessen-liegt/.
[7] Feldbrügge, D. Interview der Autorin. 4.06.2024.
[8] Schroeder, H. und Lemke, M. 2015. „Sustainability of earth building materials – Environmental product declarations as an instrument of competition in building material industry”. Vitruvio, International journal of Architecture Technology and Sustainability, Volume 0. 45-55, doi 10.4995/vitruvio-ijats.2015.4474
[9] Bundesinstitut für Materialforschung und Prüfung. 2024.
Nachhaltige BaumaterialienLehm: Uralter Baustoff mit ökologischer Zukunft. https://www.bam.de/Content/DE/Standardartikel/Themen/Infrastruktur/Green-Intelligent-Building/lehm-oekologischer-baustoff.html.
[10] Dethier, J. 2019. Lehmbaukultur: Von den Anfängen bis heute. DETAIL Business Information GmbH: München.
[11] Daube, L. 2024. Lehmtafelbauweise: Vorgefertigte lasttragende Massivlehmwände. BBSR-Online-Publikation 40/2024: Bonn.
[12] United Nations Environment Programme. 2024. Global Status Report for Buildings and Construction: Beyond foundations: Mainstreaming sustainable solutions to cut emissions from the buildings sector: Nairobi, doi 10.59117/20.500.11822/45095.
[13] “Historique de l’association”. 2024. CRAterre https://craterre.org/presentation/fondements-historiques/.
[14] Dachverband Lehmbau e.V. 2024. Der Dachverband Lehm e.V. https://www.dachverband-lehm.de/verband/].
[15] „Bildungsangebote. Kurse“.2024. Europäische Bildungsstätte für Lehmbau. https://www.lernpunktlehm.de/de/kurse.
[16] „Öko-Hochburg Wendland: Vom Atom-Protest zum Bio-Anbau“. 2021. NDRhttps://www.ndr.de/geschichte/schauplaetze/Wendland-Umweltbewegung-Vom-Atom-Protest-zum-Bio-Anbau,oekobewegung100.html.
[17] Aicher, F. 2022. „Werkhalle in Schlins. Wie lässt sich Lehm großmaßstäblich implementieren? Für Martin Rauch von Lehm Ton Erde Baukunst mit vorgefertigten Stampflehmelementen. Ein Besuch in der Erden Werkhalle in Schlins“. Bauwelt 23.2022. Bauverlag BV GmbH: Gütersloh. https://www.bauwelt.de/dl/1871787/32_bis_35_4_Rauch.p1_LowRes.pdf.
[18] Rauch, M. 2022. Gebaute Erde.3. Auflage. DETAIL Business Information GmbH: München.
[19] „Kontext: Aus Lehm gestampft“. Salm, K. 2015. Radio SRF 2 Kultur. https://www.srf.ch/audio/kontext/aus-lehm-gestampft?id=10732069.
[20] „Stampflehm-Fertigelement 36 cm, Raumhoch 2,75 m“. 2024. Lehm-Laden. https://www.lehm-laden.de/shop/conluto-stampflehm-fertigelement-36-cm-raumhoch-2-75-m-stuck-23730?category=1330#attr=125262,125635.
[21] Ziegert, C. 2022. „Stand der Anwendung von Lehmbaustoffen in Deutschland“. Bauwelt 23.2022. Bauverlag BV GmbH: Gütersloh.
[22] Fischer, D. 2017. Lehm zum Tragen bringen, In Schweizerische Bauzeitung. TEC21 2017 / 9-10. Espazium AG. Zürich.https://www.espazium.ch/de/aktuelles/lehm-zum-tragen-bringen.
[23] Volhard, F. und Rölen, U. 2009. Lehmbau Regeln: Begriffe – Baustoffe – Bauteile. 3. Auflage. Vieweg + Teubner: Wiesbaden.
[24] „Lehm und Kalk“. Lehmputze. Lehmputz im Außenbereich. 2024. Naturbauhof: Zentrum für umweltgerechtes Bauen.
https://www.naturbauhof.de/lehmputz-im-aussenbereich.
[25] Overmayer, C. Interview der Autorin. 20.06.2024.
[26] Baier, J. und Ziegert, C. 2023. Übersichtsaufsatz: Norm zur Bemessung von tragendem Lehmsteinmauerwerk verabschiedet. nbau. Nachhaltig Bauen. Ernst & Sohn GmbH: Berlin.
[27] Kellner, R. Interview der Autorin. 4.06.2024.
[28] Reh, U. 2023. Methodenaufsatz: Brandenburgs Alhambra: Ein Lehmbauensemble als Prototyp für klimaschonende, dauerhafte und lebensfreundliche Massivlehmbautechnologie und zukunftsweisende Baukultur. nbau. Nachhaltig Bauen. Ernst & Sohn GmbH: Berlin. https://www.nbau.org/2023/02/24/brandenburgs-alhambra/.
[29] Stacher, S. 2018. Paris kommt auf die Erde: Planung eines Wohnensembles in Ivry und einer Fabrik für Lehmprodukte in Sevran von Joly & Loiret mit Wang Shu. wbw 6.2018. Verlag Werk AG: Zürich.
[30] Klinge, A. Ziegert, C. und Roswang, E. 2017. Material der postfossilen Welt: Baubiologie, Konstruktion, Normen. In Schweizerische Bauzeitung. TEC21 2017 / 9-10. AG. Zürich.
https://www.espazium.ch/de/aktuelles/material-der-postfossilen-welt.
[31] „Industrieverband Lehmbaustoffe e.V“. 2024. https://iv-lehm.de/].